Ich lebe in Steinbach, einem winzigen Städtchen in Hessen, und fühle mich hier sehr wohl. Eingentlich, gibt es hier nichts Besonderes außer normalen Wohnhäusern und den üblichen Geschäften. Viele finden Steinbach langweilig. Ich dagegen schätze die dörfliche Umgebung, weite Felder ringsumher, die das ganze Jahr grün sind und im Frühling sogar leuchtend gelb von Raps und weiß von herrlich blühenden Apfel- und Pflaumenbäume. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl mitten in der Natur zu leben. Außerdem hier ist das Wetter fast die ganze Zeit angenehm. So war es vielleicht im Paradies- schön, üppig, warm und sauber.
Ich bin noch nicht lange hier und habe inzwischen viele Menschen kennengelernt. Man glaubt es nicht, aber im großen Petersburg kannte ich kaum meine Nachbarn. In dem Hochhaus war es so, dass jeder hinter seiner Tür verschwand ohne etwas zu sagen.
„Guten Morgen!“- sagt mir Frau Förster. Diese ältere sportliche Dame wohnt im Nachbarhaus. Sie ist sehr gelassen und scheint nie in Eile zu sein. Es scheint typisch für deutsche Frauen. Bei ihren Einkäufen wählen sie bedächtig drei oder vier Wurstsorten aus und ich muss einfach mit verhaltener Wut warten.
Seit langer Zeit teile ich die Menschen in warm-und kaltherzige ein. Deutsche sind irgendwo in der Mitte. Es gibt hier aber sehr viele Ausländer. Sie sind völlig anders, besonders Muslime. Ich sehe oft eine Frau ganz in schwarz- von oben bis unten- ihre Tochter ist in derselben Klasse wie mein Sohn. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, so weit von anderen Menschen, immer nur mit ihren vier Kindern und dem in weiß gekleideten Ehemann. Sie spricht kaum mit Fremden. Mittelalter- heutzutage- das konnte ich mir früher nicht vorstellen.
Genauso fremd, aber nicht so erschreckend wirken Türken und Chinesen. Ein paar Monaten lang grüßte ich eine chinisische Nachbarin bei unseren zufälligen Treffen. Sie nickte mir zu. Dabei habe ich bemekt, dass sie niemals von selbst „Hallo“ sagte. Nach dem ich aufhörte sie zu grüßen, gehen wir wortlos aneinander vorbei.
Bei Türkinnen gibt es große Unterschiede, teils sind sie ganz modern und nett, aber das ist die Minderheit. Die Mehrheit der Frauen scheint niemand zu brauchen, außer ihren Landsleuten. Oft bilden sie große Gruppen und okkupieren in der Sommerzeit mit Kindern, Sachen und Proviant alle Spielplätze. Fast aller älteren Türkinnen tragen dunkle Kopftücher und lange unförmige Kittel. Jüngere sind eleganter und bevorzugen helle Farben, aber das ändert nicht so viel. Sie bleiben in ihrem Kreis. Es gibt aber erfreuliche Ausnahmen. So die Eltern der Freundin meiner Tochter. Ihre Mutter ist sehr offen und sympatisch. Sie arbeitet in einem Kinderzentrum und hat außerdem drei eigene Kinder. Ihre Gastfreundschaft überrascht mich bei jedem Besuch immer wieder. Ihr Mann, ein vielbeschäftiger Computerspezialist, ist sehr gebildet und hilfsbereit. Einmal mussten mein Mann und ich für zwei Wochen wegfahren. Sie nahmen mit großer Selbstverständlichkeit unsere Tochter auf. Bei dieser türkischen Familie sehe ich alles, von den anderen Menschen oft nur Teile haben- Wamherzigkeit, Selbstbewustsin, glückliches Familien und Berufsleben.
„Wieso sind sie so?“- fragte ich mich. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie beide in sehr freiheitlichen Holland groß geworden sind.
Im Gegensatz zu den Eltern erlebe ich ihre Tochter Aylin als leichtsinnig und distanzlos. So kann sie z.B. mehrmals um 6 Uhr morgens ohne wichtigen Grund bei uns anrufen, ohne Verabredung vorbei kommen, aber nach Verabredung nicht.
Ich habe auch bemerkt, dass nach Kontakt mit Aylin meine Tochter immer frecher, als sonst ist. Andere junge Türken wirken auf mich auch sehr frech. Sie leben in einer Zwischenwelt, gehören weder zu Deutschland noch zur Türkei. Sie scheinen sich als etwas besonders und über anderen Menschen stehend zu betrachten.
Afrikanische Frauen sind freundlicher und lächeln gern. Fast alle von ihnen sind Hausfrauen, die sich um ihre Kinder kümmern. Sie sind glücklich durch bequemes und wohlgenährtes Leben. Ihre Deutschkenntnisse sind ausreichend um Einkäufe zu erledigen oder einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Mehr brauchen sie nichts.
Fast unglaublich für mich ist immer noch, wie viele verschiedene Nationalitäten in unsere Straße wohnen. Ich fand, dass meine Vorstellungen über ihre Eigenarten stimmen. Im Reihenhaus gegenüber wohnen laute, unbekümmerte Amerikaner. Der fast schwarzhäutige Mann ist immer zu Hause, scheint keinen ernsthaften Beruf auszuüben. Es ist schön sein warmherziges „Hallo“ zu hören, sein kontaktfreudiges Gesicht zu sehen. Dagegen wirkt seine weißhäutige Frau streng und karrierebewusst. Sie arbeitet beim amerikanischen Konsulat in Frankfurt, ihr Mann dagegen unternimmt etwas mit den Kindern oder arbeitet im Garten. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau eher ungewöhnlich.
Und die Deutschen? Hier fand ich sehr viele liebevolle Personen. Vor allem, Rentner und Frührentner. Täglich spazieren sie allein, mit ihren Bekannten oder Hunden. Sie sind gut angezogen, gepflegt, freundlich und zufrieden. Sie haben genug Zeit für sich selbst und für andere.Vielleicht, weil sie hier einfach mehr Zeit haben und ihre Gedanken nicht ständig um das tägliche Stück Brot kreisen müssen. So ist, zum Beispiel, Herr Förster, der immer bereit mit uns und anderen Nachbarn zu sprechen. Er war der erste, der uns grüßte, als wir in die Wohnung einzogen. Früher arbeitete er als Englischlehrer, deswegen führten wir unsere ersten Gespräche in Englisch. Dieser 70jährige Mann hat immer viel zu tun. Schon um 8 Uhr geht er im schnellen Tempo durch die Felder und beeilt sich um später in seinem Arbeitzimmer zu lesen und zu schreiben.
Es ist sehr schwer für mich zu entscheiden, welche Lebensweise besser sein soll: eine Mutter, die Kinder erzieht, aber vor Streß und Erschöpfung ständig gereizt ist oder jemand, der sein ganzes Leben lang nur für sich lebt, aber großes Interresse an anderen Menschen und an der Welt zeigt. In dem Haus, in dem wir heute wohnen, gibt es wie überall beides. Mir ist aufgefallen, dass hier viel mehr Menschen als in Russland allein leben und sogar glücklicher und zufriedener scheinen als Familienverbundene. So ist eine 82jährige alte Dame, die dreimal mit ihrem Pudel spazieren geht und wirkt immer fröhlich und freundlich. Ausländer scheinen das nicht so gut zu können. Eine unserer Nachbarinnen ist eine erst 50jährige russische Frau. Diese Frau lebt schon 9 Jahre hier, früher lebte sie mit ihrer alten Mutter und beide stritten mit einander. Jetzt ist sie endlich „frei“, aber trotzdem unzufrieden. Sie machte mich fast kapput mit ihren Beschwerden und ihren Klagen. Dabei arbeitet sie überhaupt nicht und bekommt alles für ihr Leben umsonst. Ein anderer Nachbar- Heinz- ein alleinlebender Mann Mitte 50, ist aus Kasachstan. Nach der Scheidung von seiner Frau lebt er ganz allein. Aber was für ein Leben ist das? Tagsüber arbeitet Heinz in einer Wäscherei, abends und am Wochenende ist er immer betrunken. Glücklicherweise ist er „der ruhige Säufer“ und macht keine besonderen Probleme. Manchmal nervt er uns nur mit seinen lästigen Gesprächen.
Ich finde nur gut, dass Heinz kein Schmarotzer ist. Normaleweise es ist eine Schande auf Kosten anderer zu leben. Hier sehe ich in dieser Hinsicht genug schamlose Menschen. So ein junges Paar von dem Haus gegenüber. Ich sehe die beiden oft umarm gehen: üppiges Mädchen immer im kurzen Rock und mit großem Dekollte, ihr Begleiter mit einer Bierflasche in der Hand. Sie sind beide sehr jung, Mitte 20, schon mit Ausbildung, aber ohne Lust zu arbeiten. Sogar ihre 3jährige Tochter haben sie von längerer Zeit zu den Großeltern geschickt. Jetzt spazieren sie hin und her, müßig und ohne Ziel.
Fast jeden Tag sehe ich auch einen Wichtigtuer. Er spaziert mit seinem großen Hund durch die Felder. Der Mann geht immer langsam, er muss nirgendwohin. Michael ist noch nicht so alt, er hat ein 6jähriger Sohn, wirkt aber wie ein Opa. Seine einzige Beschäftigung ist Versicherung anzubieten. Nachdem ich einige Angebote abgelehnt habe, verlor er das Interesse.
Ich finde paradox, dass hier viele Menschen gar nichts tun und gleichzeitig schuften sich andere tot. Die, die Arbeit haben, sind oft schrecklich überfordert. Einige Schicksale finde ich sogar erstaunlich.
Die Thailänderin Pawenna ist mit 40 Jahren nach Deutschland gekommen. Sie heiratete hier einen geschiedenen Deutschen, der viele finanzielle Probleme hat. In Thailand arbeitete sie als Schneiderin, hier wurde diese zierliche Frau Masseurin. Sie erzählte mir, dass ihr Mann viel Geld von ihr verlangt. Sie muss aus eigener Tasche viele Kosten abdecken. Außerdem schickt sie ihren zwei Kindern Geld, die in Thailand geblieben sind. Deswegen besteht Leben nur aus Arbeit. Pawenna arbeitet den ganzen Tag in einem Sonnenstudio, sonntags besucht sie Kunden zu Hause, den Rest der Zeit widmet sie der Hausarbeit.
„Besuchst du mit deinem Mann mal ein Schwimmbad oder ein Restaurant?“
„Ganz selten,- seufzt sie. Mein Mann macht diese Besuche lieber mit seinen Kindern aus der ersten Ehe.“
Am Anfang als ich Pawenna kennenlernte, war sie eine frohliche Frau. Bald wirkte sie erschopft. Was ist das für ein unmögliches Leben, immer diese schwer körperliche Arbeit, denke ich immer, wenn ich sie treffe. „Eines Tages fahre ich zurück nach Thailand“,- träumt Pawenna jetzt. Mal sehen.
Manchmal macht auch in Traumberuf Menschen kaput. Anne, eien junge Rechtsanwältin, bei der der Arbeitgeber ständige Einsatzbereitschaft erwartet. Oft muss sie 10 Stunden pro Tag arbeiten, auch am Wochenende. Als Trost bekommt sie ein sehr gutes Gehalt und kann zum Beispiel interessante Reisen in exotische Länder wie Indien oder Japan leisten. Anne lebt allein in einer gemieteten Wohnung, oft hat sie kaum Zeit für Kochen, Waschen und andere Sachen.
Eine andere junge Steinbacherin -Elena macht in einer gut gehenden Praxis eine Ausbildung zur chirurgischen Assistentin. Sie verlässt das Haus um 7Uhr, kommt erst um 18Uhr zurück. Sie mag ihre Arbeit, fühlt sich aber oft gestresst.
Bei Operationen muss sie stundenlang stehen, sehr geschickt und konzentriert sein. Was sie verdient deckt nicht mal ihre Miete. Ihr Freund, der eine Stelle hat, trägt fast alle Kosten. Elena hofft, nach der Ausbildung in dieser Praxis eine Stelle zu bekommen, aber sie ist unsicher, ob sie übernommen wird.
Nicht jede Arbeit macht zufrieden. Karina ist Altenpflegerin. Oft treffe ich diese junge Frau an einer Haltestelle. Sie kleidet sich immer schwarz, ihre Haare sind schwarz gefärbt. Ihre Gesicht ist immer so traurig, sodass ich wissen wollte wieso. Karin erzählte alles. Die 25jährige pflegt zu Hause ihre Mutter, gegen Bezahlung kümmert sie sich um ein paar ältere Frauen.
„Hast du einen Freund?“- fragte ich sie.
„Nein, ich kann nicht den Richtigen finden“,-sagte sie leise.
Was heißt, „den Richtigen finden“? Dieses Problem verstehe ich nicht. Ich kann mir alles vorstellen: unterschiedliche Männern, Liebeskummer, Kampf für meine Liebe, aber nicht solche Einsamkeit. Hier traf ich erstaunlich viele junge Frauen, die jahrelang allein leben. Sie arbeiten viel und gern und kommen spät nach Hause. Am Wochenende gibt es immer viel zu tun- die Wohnung, Ausflüge, Freundinnenen. Entweder verlieben sie sich nicht so leidenschaftlich, um sich zu binden oder haben einfach nicht genug Liebe für andere. So vergehen Jahre. Man ist schon 36 und hat weder eigene Familie, noch Kinder. Auch Frau S., Erzieherin im Kindergarten, den mein Sohn besuchte, ist schön 40Jahre alt und lebt noch allein.
Anfangs sagte ich, dass ich hier schon viele Menschen kennengelernt. Das freut mich. Jetzt, denke ich, ich verstehe die Menschen besser. Das ist aber für mich zu wenig: aus diesen Bekanntschaften entwickelte sich keine tiefere Beziehung. Ich bin immer noch allein wie ein Vogel, der kein Nest hat. Er fliegt, sieht viel, aber